"Ich will entdecken - du schaust mir zu"

Entwicklungspsychologische Hintergründe zu Bindung und Autonomie Gruppen

Beobachtung und die Entwicklung des Selbst

Eine Mutter sitzt neben anderen Eltern und deren Babys auf dem Boden und beobachtet ihr 11 M0nate altes Baby dabei, wie es sich krabbelnd durch den Raum bewegt. Das Kleine entdeckt plötzlich eine Rassel am Boden liegen. Es setzt sich hin und ergreift diese, wodurch ein Geräusch entsteht. Das Baby erschrickt kurz, freut sich dann aber über das Geräusch und versucht, dieses wieder hervorzubringen. Es bewegt dazu die Rassel hin und her und quietscht vergnügt, als wieder das schöne Geräusch zu hören ist. Das Baby dreht sich um und sucht mit den Blicken nach seiner Mutter - hat sie auch gesehen, was es gerade erlebt hat? Ja - es sieht den lächelnden Blick der Mutter, die seine Freude mit ihm teilt. Gleich fühlt sich der schöne Moment noch ein wenig schöner an!

Für die Entwicklung des Selbst, also der Erfahrung wer man ist, mit all seinen Gefühlen, Gedanken, Fähigkeiten, Interessen... benötigt ein Kind Erfahrungen von Urheberschaft. Das Kind muss selbst Dinge angreifen und dabei entdecken, wie etwas funktioniert, um das Gefühl "ich kann" bzw. "ich bin" entwickeln zu können. Musikinstrumente eignen sich hervorragend für Erlebnisse der Urheberschaft. Je nachdem wie das Kind mit dem Instrument hantiert, wie stark oder leicht es klopft, schüttelt, streicht... erklingt ein anderes Geräusch. So erhält das Kind eine unmittelbare Rückmeldung über die Art seiner Bewegung bzw. die eigene Kraft. 

Dies geschieht im Beisein einer ruhigen, beobachtenden Bezugsperson, welche durch ihre emotionale Beteiligung ein wichtiger "Zeuge" der Erlebnisse des Kindes ist. Über Blicke versichert sich das Kind, dass seine Bezugsperson die Gefühle (z.B. die Freude über das entstandene Geräusch) mit ihm teilt. Solche Erfahrungen von geteilter Aufmerksamkeit und Freude fördern die Entwicklung der Intersubjektivität (also das Gefühl von "In Beziehung Sein") und in weiterer Folge die Entwicklung von Interaktion und Sprache. Die abwartende Haltung der Bezugsperson ermöglicht dem Kind, auf seiner Entdeckungsreise seinen eigenen Wünschen nach Nähe und Distanz (also wann es im Kontakt mit anderen sein oder wann es alleine entdecken will) nachzugehen und die Bedürfnisse nach Aktivität und Ruhe selbst zu regulieren.

Beobachtung und der "Kreis der Sicherheit"1

Ein 8 Monate altes Mädchen sitzt auf dem Schoß seines Vaters und beobachtet die anderen Babys beim Spielen. Lange sitzt es da und schaut aufmerksam zu, bis es plötzlich vom Schoß des Vaters herunterrutscht, zu den anderen in die Mitte krabbelt und sich neben einen Jungen setzt. Es hat den kleinen Ball entdeckt, den dieser durch die Luft kreisen lässt. Erst beobachtet es fasziniert das Geschehen, dann greift es nach dem Ball und zieht daran. Der Junge lässt ihn los und so kann das Mädchen selbst den Ball kreisen lassen. Es bewegt sich dabei so wild, dass es nach hinten umfällt. Das Mädchen schaut unsicher zu seinem Papa zurück und krabbelt schnell zu ihm. Er nimmt sie auf seinen Schoß, streichelt sie und fragt "Oh, bist du jetzt erschrocken?". Das Mädchen bleibt eine Weile in seiner Nähe, bis es wieder etwas Spannendes erblickt und sich erneut in die Mitte bewegt.

Mit wachsender Autonomie braucht das Kind einen sogenannten "Kreis der Sicherheit", der ihm die Erkundung seiner Umwelt ermöglicht. 

Zum Einen benötigt das Kind die Bezugsperson als "Sichere Basis", von der aus es auf Entdeckungsreise gehen kann und die das Kind in seiner Exploration unterstützt. Das Kind erlebt dadurch "Ich darf ziehen, wenn ich erkunden will - du freust dich mit mir, hilfst mir wenn nötig und passt auf mich auf." Die Mutter/ der Vater vermittelt dem Kind durch die ruhige Zurückhaltung das Gefühl von Sicherheit - diese entspannte Atmosphäre kann auf das Kind übergehen. So darf es selbst herausfinden, was es schon alleine schafft und welche kreativen Lösungsmöglichkeiten ihm einfallen. Durch die aufmerksamen Blicke der Mutter/ des Vaters spürt das Kind, dass es auf seiner "Reise" nicht allein ist. An der Mimik bzw. Gestik der Bezugsperson kann es ablesen, ob es sich in Sicherheit oder Gefahr begibt. 

Zum Anderen benötigt das Kind die Bezugsperson als "Sicheren Hafen", zu dem es bei Unsicherheit oder bei dem Bedürfnis nach Ruhe zurückkehrt, die es tröstet und freudig empfängt. Somit erfährt es "Ich werde willkommen geheißen, wenn ich zu dir komme - du beschützt mich, tröstest mich, freust dich an mir und hilfst mir meine Gefühle zu ordnen." Indem die Bezugsperson dem Nähebedürfnis des Kindes nachgibt, seine Gefühle benennt und es tröstet, hilft sie ihm dabei sich zu regulieren und das Erlebte zu verstehen. Solche Erfahrungen stärken nicht nur Bindungs- und Autonomieprozesse, sondern sind wichtig für die Emotionale Entwicklung (insbesondere der Emotionswahrnehmung und -regulation) des Kindes.

Beobachtung und Selbstreflexion

Ein 9 Monate alter Junge spielt mit einer Glocke. Plötzlich nimmt ein anderes Kind ihm diese weg. Der Junge erschickt kurz und schaut der Glocke hinterher. Die Mutter erschickt auch und spürt Trauer. Ihr erster Gedanke ist: "Mein armer Bub ist furchtbar traurig, dass ihm die Glocke weggenommen wurde. Ich muss ihn trösten und ihm ein anders Musikinstrument geben bevor er zu weinen beginnt." Sie hält kurz inne und lenkt die Aufmerksamkeit zu sich selbst. Sie spürt, wie sich ihre Brust zusammenzieht und sie einen Klos im Hals hat. Dieses Trauergefühl kennt sie von früher, als ihr oft etwas weggenommen wurde und sie sich nicht getraut hat, sich zu wehren. Als die Mutter wieder zu ihrem Baby schaut, erkennt sie dass es lächelt und die sich bewegende Glocke in der Hand des Kindes beobachtet. Erleichtert atmet sie auf - es war also ihre eigene Trauer die sie gespürt hatte, und nicht die ihres Jungen.

Jedes Elternteil trägt die eigenen (Kindheits-) erinnerungen, Erfahrungen und erlernten Gesellschaftsnormen mit sich. Diese "melden" sich immer wieder mal im Alltag mit dem Baby. Sie können einen neutralen Blick auf das Geschehen im Hier und Jetzt überschatten und dadurch die Bewertung der Situation und der Befindlichkeit des Kindes beeinflussen. 

Indem die Bezugsperson während der Beobachtung ihres Babys immer wieder den Fokus auf sich lenkt, kann sie nachspüren, welche eigenen Gedanken oder Gefühle den Moment begleiten. So kann sie besser differenzieren lernen, welche Emotionen zu ihr und welche zu ihrem Baby gehören und in weiterer Folge erkennen, wann das Kind wirklich elterliche Unterstützung braucht.

Diese Selbstreflexion fördert das ruhige und entspannte Zuschauen. Müttern und Vätern fällt es dadurch leichter, das Eigene einen Moment beiseite zu lassen und ihr Kind mit all seinen Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen zu sehen.

Mag.a Maria Riemer

Musiktherapeutin, Emotionelle Erste Hilfe Fachberaterin, Elementarpädagogin


1 "Kreis der Sicherheit" entwickelt 2000 von Cooper, Hoffmann, Marvin und Powell 


Literatur

Grossmann, K. & Grossmann, K.E. (2012). Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. 5. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 

Henzinger, U. (2017) Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit. Humanethologische Perspektiven für Bindungstheorie und klinische Praxis, Berlin: Psychosozial-Verlag 

Schumacher, K. & Calvet, C. (2013). Therapeutische Anwendung von Musikinstrumenten aus entwicklungspsychologischer Sicht. In: Musiktherapeutische Umschau Band 34, 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 217 - 229 

Stern, D. (2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings. 9. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta